Im Jahr 1102 kam ein kleines Grüppchen Frauen ins Rottenbachtal. Die sächsische Adelige Paulina war im Alter von etwa 40 Jahren zum zweiten Mal verwitwet und wollte sich nun ganz dem religiösen Leben widmen. Am Nordrand des Thüringer Waldes ließ sie sich mit Gleichgesinnten nieder, vier Jahre später, im Jahr 1106, genehmigte der Papst die Gründung eines Klosters. Auch der Bau einer Klosterkirche begann schnell. Viel sah Paulina allerdings nicht mehr von dem später imposanten Gebäude – schon 1107 starb sie nach einem Sturz vom Pferd. Trotzdem lebt ihr Name fort. Als ihre Gebeine später in die neu errichtete Klosterkirche umgebettet wurden, verdrängte der Name „Paulinzella“ den ursprünglichen Klosternamen Marienzelle. Man kann jedoch davon ausgehen, dass die Klostergründerin am Plan der Klosterkirche Anteil hatte.
1124, vor genau 900 Jahren, konnte die Kirche geweiht werden, zu Ehren der Jungfrau Maria, Johannes des Täufers und Johannes des Evangelisten. Fertig war der von Baumeistern aus dem Schwarzwaldkloster Hirsau geleitete Bau da allerdings noch längst nicht, bis 1160 zog sich die Bauzeit hin. Traditionell von Osten mit dem Chor beginnend, wurde die Kirche binnen fast sechs Jahrzehnten aus dem umliegend vorhandenen Buntsandstein errichtet. Ganze Steinblöcke wurden zur Klosterkirche transportiert und erst vor Ort behauen. Architektonisch diente das Mutterkloster Hirsau als Vorbild, was an den Baudetails bis heute ablesbar ist.
Für die Menschen des Mittelalters war der imposante Kirchenbau mit seiner weit sichtbaren Doppelturmanlage staunenswert. Sogar eine Sage rankt sich um die Arbeiten am sakralen Bau: Der Baumeister habe den Teufel im Tausch gegen die erste Seele, die das Kirchenportal durchschreitet, gebeten, die Arbeiten schnellstmöglich zu Ende zu bringen. Des Baumeisters Frau schickte im entscheidenden Moment einen Ziegenbock in den Kirchenraum, den der Teufel sogleich packte. Als der Herr der Unterwelt den Täuschungsversuch bemerkte, eilte er in größter Wut empor und soll dabei zwei Säulen umgestoßen haben, an denen noch heute Risse zu sehen sind.
Abbildung: H. Enders, Federzeichnung, 1913, in: Alois Holtmeyer: Beiträge zur Baugeschichte des Klosters Paulinzella, Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde, Bd. 23Nach der Reformation wurde das Kloster aufgehoben und gelangte in den Besitz der Grafen von Schwarzburg. Sie machten aus dem Kloster eine Domäne, errichteten ein großes Amtshaus und bauten eines der alten Klostergebäude in ein Jagdschloss um. Die übrigen Klostergebäude, vor allem die Kirche, waren nun ohne ihre ursprüngliche Funktion und dienten lange Zeit als Steinbruch. Was heute unfassbar erscheint, war zur damaligen Zeit gängige Praxis, da behauener Stein nur mit viel Aufwand zu beschaffen war. Erst Fürst Johann Friedrich von Schwarzburg-Rudolstadt (1721 – 1767) stoppte 1756 den Raubbau und veranlasste an der Kirchenruine schon erste bauliche Sicherungen. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde die ehemalige Klosteranlage zu einem beliebten Ausflugsziel.
Im Zeitgeist der Romantik lockte die malerische Ruine zahlreiche Bewunderer mittelalterlicher Architektur nach Paulinzella, etwa Friedrich Schiller und Alexander von Humboldt. „Sie ist wahrlich schön und die schönste christliche Ruine von Architektur, die mir je vorgekommen ist. (…) Es fehlt einem (…) wirklich etwas Wesentliches, wenn man sie nicht gesehen hat“, schrieb Wilhelm von Humboldt im September 1810, nachdem er Kloster Paulinzella besucht hatte.
Abbildung: Georg Melchior Kraus, „Ruinen von Paulinzella im Rudolstädtischen von Abend“, um 1800, Bildarchiv Thüringer Landesmuseum Heidecksburg RudolstadtDas Amtshaus neben der Kirchenruine ist der zweite Jubilar in diesem Jahr
Der klösterliche Vorgängerbau des Amtshauses, ein Klausurgebäude, wurde durch einen Brand zerstört. Ersetzt wurde es durch den heute noch stehenden Bau. Dessen Fachwerkholz aus heimischer Weißtanne wurde im Winter 1474 geschlagen und verbaut, wie Untersuchungen bewiesen. Damit konnte das bereits vermutete Alter des Amtshauses von 550 Jahren bestätigt werden. ThüringenForst hat im Amtshaus einen seiner Verwaltungssitze. Es beherbergt neben Büroräumen einen Sonderausstellungsbereich, in dem eine ursprüngliche Bohlenstube mit Kachelofen, ein Modell des Forstamtshauses, Funde aus der Sanierungszeit und originale Schablonenmalereien aus der Renaissance an den Deckenbalken zu sehen sind. Gemeinsam mit dem Museum im Jagdschloss zur Kloster-, Forst- und Jagdgeschichte wird jährlich eine kleine Sonderausstellung zu aktuellen Themen konzipiert.
2024 greift das Thüringer Landesmuseum Heidecksburg das internationale Caspar-David-Friedrich-Jubiläum auf. Das in seinem Bestand befindliche Gemälde des Künstlers „Morgennebel im Gebirge“ schickte es zu diesem Zweck auf Tournee nach Berlin, Hamburg und New York. Aber in Paulinzella bleibt die Romantik dennoch bestimmend: Mit der Ausstellung „Verfall und Sehnsucht“ schlägt das Museum den Bogen zu Paulinzella als Sehnsuchtsort des romantischen Zeitgeistes des frühen 19. Jahrhunderts.
Foto: STSG, Maria PorskeDie Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten widmet sich dem denkmalpflegerischen Erhalt der Klosteranlage und saniert seit mehreren Jahren die Klosterkirchenruine. Das durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie die Thüringer Staatskanzlei geförderte Projekt Schlösserwelt Digital&Original nimmt die seit 2018 gemeinsam gestaltete Vermittlungsarbeit der Akteure zur Klosteranlage auf. Das jüngste Ergebnis: Seit April können Kindergruppen und Familien das Areal mit einem Entdeckerrucksack erkunden. Er beinhaltet verschiedene Utensilien und eine Entdeckerkarte. Begleitfigur des Rundgangs ist die Geister-Eule Pauline. Sie erzählt vom Mittelalter, als in Paulinzella noch Mönche und Nonnen lebten. Außerdem soll es einen Mediaguide geben, der über das Klostergelände führt, die Geschichte der Anlage erklärt und die einstigen Dimensionen der ehemaligen Klosterkirche zeigt.
Ruinensanierungen gehören zu den besonderen Herausforderungen in der Denkmalpflege. 2018 konnte die umfängliche Restaurierung des Südturms der Klosterkirche Paulinzella abgeschlossen werden. Nach der Reinigung des Sandsteins wurde das Mauerwerk aufwendig konserviert, teilweise neu verfugt und Mauerkronen sowie Gesimse und Friese wurden durch Bleiabdeckungen geschützt. 2019 folgte das Querhaus. In den kommenden Jahren ist das Langhaus an der Reihe. Für die Vorkirche steht ein konservatorisch-restauratorisches Sicherungskonzept an. In diesem Zusammenhang sollen die Reste der bauzeitlichen Architekturteile, wie Säulenschäfte und Kapitelle, sowie die Grabplatten in einem separaten Lapidarium präsentiert werden.
Foto: STSG, Petra HinreinerAuch wenn ein Großteil der Kirchenruine zum Jubiläum ihrer Weihe nicht begehbar ist, gibt es für Interessierte in diesem Jahr in Paulinzella einiges zu sehen und zu erleben. Neben den bereits genannten Angeboten haben die drei Hauptakteure ein abwechslungsreiches Jahresprogramm aufgelegt. Von Führungen, Kinderangeboten, Aktionstagen, Festen und Märkten bis zu Lesungen und Vorträgen reicht das Spektrum. Dabei bringen Forst, Museum und Stiftung jeweils ihre Kompetenzen ein. Der Thüringen Forst legt beispielsweise ein Augenmerk auf seine Arbeit in der Waldpädagogik, auf den Wald um Paulinzella, auf die Weißtanne, die auch Baustoff für das Forstamtsgebäude war, auf seine Forstarbeit und aktuelle Herausforderungen bedingt durch Klimawandel, Wasserknappheit und Monokulturen.
Maria Porske
auf einen Blick.